Mittwoch, Juli 30, 2008

Im Werk (Fortsetzung von: Im Fort)



13.07.2026
Es ist schön hier im Sommer, Königskerzen blühen, Nachtkerzen, der Dost duftet, unten am Sumpf schwirren Libellen, hüpfen Frösche zwischen Blutwurz, Sumpfdotterblumen und Schilf. Amseln füttern ihre zweite Brut, es ist warm, heute früh fiel ein Landregen. Von meinem Lieblingsplatz habe ich freie Sicht auf Brombeerhecken, die reichen Ertrag versprechen, die eingestürzte, von Knöterich und wildem Wein überwucherte Gießhalle und den ehemaligen Werksbahnhof, dessen Schotterflächen von Steinbrech, Flechten und Moosen überwuchert werden. Die Geleise sind lange schon abmontiert und eingeschmolzen, nur die Bohlen widerstehen noch ihrer Verrottung.
Gestern Nacht habe ich dieses Notizbuch gefunden, in einer verlassenen Laube ganz in der Nähe. Eigentlich war ich auf der Suche nach vernünftigem Werkzeug, die Bodenbeschaffenheit ruiniert jeden Spaten und jede Grabgabel und für meine Hanfpflanzen brauche ich eher tiefgründigen, feinen Boden, um eine nennenswerte Ernte zu erzielen. Jedenfalls lag dies Büchlein dort, kaum beschädigt von Wind und Wetter und nur die ersten zwei Seiten beschrieben, in einer unleserlichen Handschrift. Spontan habe ich beschlossen, ab jetzt ein Tagebuch zu führen, damit mich die Erinnerung nicht trügt in späteren Jahren.
Es ist erstaunlich, wie leicht Verzicht fällt, ich wohne hier schon über ein Jahr und habe noch nie elektrisches Licht, fließendes Wasser oder Zentralheizung vermisst. Fernseher und Radio sind ohnehin nur Zeitverschwendung, auf allen Kanälen das gleiche in verschiedener Verpackung. Essen findet sich im Überfluss, so dass ich ausreichend Vorräte habe für den Winter, Wasser sammelt sich in den Kellern der Gebäude, Holz und Kohlen liegen überall herum.
Gleich nach dem Frühstück habe ich den Anhänger beladen, um Bauer Maas zu beliefern. Er hat einen Hof nicht weit von hier, abseits von der Hauptstrasse und nur auf Feldwegen zu erreichen. Ich tausche mit ihm, Marihuana und Heilpflanzen gegen Kartoffeln, Salz und Speck. Manchmal helfe ich auch bei der Ernte oder stehe nachts Wache auf den Feldern. Er ist ein ernster Mann weniger Worte und liebt es, abends Pfeife rauchend vor seinem Haus zu sitzen. Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben und von seinem nach Australien ausgewanderten Sohn hat er nie wieder gehört, wahrscheinlich ist er in einem der zahlreichen Aufstände umgekommen. Jetzt bewirtschaftet er den Hof mit Hilfe von John und Cathy, Flüchtlingen aus London.
Wir verbrachten den Tag damit, das östliche Kartoffelfeld abzuernten und ich machte mich bei einbrechender Dämmerung auf den Weg zurück. Da der Anhänger schwer beladen war, beschloss ich, ein Stück über die Hauptstrasse zu fahren, auch wenn dies nicht ganz ungefährlich ist. Man hört immer wieder davon, dass Menschen aufgegriffen werden von der Bürgerpolizei, um in eine der überall eingerichteten gesicherten Heimstätten verbracht zu werden. Seit vor drei Jahren die NSGPE die Wahlen gewonnen hat, die neue soziale Gerechtigkeitspartei unter ihrem ersten Bürger Kevin Yilmaz, wird es zunehmend schwerer, außerhalb der Norm zu leben. In den mit Mauern und Stacheldraht gesicherten Heimstätten ist alles bis in kleinste geregelt, es gibt Arbeit für jeden, Sicherheit und soziale Gerechtigkeit. Ein verlockendes Angebot, dem immer mehr zustimmen.
Als ich auf Höhe des Altersheims St Barbara war, musste ich absteigen und schieben, da die Straße übersät war mit Trümmern. Neugierig stellte ich mein Rad in den Schutz einer Hecke und begab mich auf den Weg zum Hauptgebäude, das offenbar völlig ausgebrannt war. Als ich an der Kapelle vorbeikam, hörte ich ein leises Stöhnen. Ich betrat den dunklen Raum und sah undeutlich einige Körper, die verrenkt um den Altar herum lagen. Aus der hintersten Ecke ertönte schwaches Atmen, vorsichtig tastete ich mich dorthin und fand einen alten Mann mit blutüberströmtem Kopf. Mit einiger Mühe gelang es mir, ihn aus der Kapelle zu tragen. Bedauernd warf ich die Kartoffeln in die Hecke und lud den Mann in den Anhänger. So langsam und vorsichtig wie möglich fuhr ich zurück ins Werk. Dort angekommen, reinigte ich seine Wunden, verband sie mit zerrissenen Laken und flößte dem älteren Herrn einen Tee aus Dost, Salbei und Mohn ein. Nun schläft er, auf einem weichen Lager aus Laub. Hoffentlich gelingt es mir, ihn wieder zu Kräften zu bringen, Medizin ist auf dem freien Markt fast nicht mehr zu bekommen und ich bin nicht bei der staatlichen Gesundheitsfürsorge versichert.
Es ist schön, einen anderen Menschen in der Nähe zu haben. Morgen will ich ihm eine Suppe aus Kaninchenfleisch bereiten. Ich muss auch noch eine Mütze nähen, mit Aluminiumfolie gefüttert, damit seine Gedankenstrahlen nicht messbar sind. Aber nun wird geschlafen.

1 Kommentar:

  1. Anonym9:17 PM

    Der Text schreit nach einer Fortsetzung der Fortsetzung :)

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