Montag, Juli 28, 2008

Ab Bruch



Ein Schleier hatte sich gehoben, ihm bot sich ein neuer Anblick dar, eine Sicht auf ein etwas, das wohl immer schon dagewesen, aber bis jetzt verhüllt geblieben war. An den Rändern der Wahrnehmung hatte es immer leicht geflimmert, aber nie hatte er genauer hingesehen, immer zu beschäftigt mit den alltäglichen Abläufen, abgelenkt von den Handlungen anderer. Zum ersten Mal seit langer Zeit war er allein, keine Pflichten waren zu erfüllen, keine Termine, die ihn bedrängten. Er hatte es sich gemütlich gemacht auf dem Sofa, die Augen geschlossen und den Blick nach innen gerichtet, ließ alles zu, jeden Gedanken, jede Regung und hielt nichts fest. Die Bilder zogen an ihm vorbei, er war sein eigener Regisseur und sein Publikum.
Gestern hatte er beim Aufräumen eine Tablette gefunden, aus seiner wilden Vergangenheit, verborgen in einem Messingdöschen, bestimmt schon zwanzig Jahre alt. Er hatte nach einem alten Photo gesucht, wollte sich vor den Spiegel stellen und sein Gesicht vergleichen, sehen, ob er sich verändert hätte. Und nun rumorte diese Pille in ihm und er konnte sich erinnern, wie er sie damals gekauft hatte und dann doch nicht genommen, weil er nicht mehr immer durch die selben Türen hatte gehen wollen, nicht mehr die immer gleichen, unwahrscheinlichen und scheinbar so bedeutsamen Entdeckungen hatte machen wollte, die sich im doch Nachhinein als belanglos herausstellten. Vielleicht, hatte er gedacht, sollte ich der Suche eine zweite Chance geben, bestimmt kommt diesmal, mit dem Abstand und der Erfahrung der Jahre versehen, etwas verwertbares heraus, eine Klarheit, die weiter trägt. So saß er und schaute seine inneren Bilder, stellte sich Gefühlsstürmen, trotzte Trauer, lachte über seine Albernheit, manchmal unterbrach er sich selber, fragte sich, ob wohl diese oder jene Richtung zielführend sein könne und beschimpfte sich wieder, weil er nicht loslassen konnte, immer bemüht, die Kontrolle zu behalten.
War das schon immer so gewesen, war er immer schon das Arschloch, als das er sich jetzt empfand, Verräter an der eigenen Sache, auf dem falschen Dampfer unterwegs in den sicheren Untergang? Er spaltete sich innerlich auf, ein ganzes Rudel von Identitäten, die sich gegenseitig bekämpften und beschimpften, die Grundsatzdiskussionen führten und einander das Leben zur Hölle machten, einem lodernden Inferno, in das jetzt alle verschwanden, um auf der anderen Seite auf einem Eisfeld zu landen, erfroren. So lange hatte er nach sich gesucht, und nun, da er meinte, sich gefunden zu haben, war er ein unerträgliches Ekelpaket, ein Idiot, ein Widerling, nichtswürdig. Er beschloß, ab jetzt alles anders zu machen, die Reise nicht mehr abzubrechen und weiter zu suchen, bis er etwas fand, das ihm Halt geben könnte, Bestätigung.
Am nächsten Tag gab seine Frau eine Vermißtenanzeige auf.

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