Samstag, April 19, 2008

Umdrehung



Seit er sich erinnern konnte, lief er davon, er lief und lief, immer weiter. Seine Eltern hatten ihn von klein auf gewarnt: "Bleibe niemals stehen, folge immer dem Weg, weiche nicht ab und dreh dich nicht um". Sie hatten ihm auch von der Prophezeiung zu seiner Geburt erzählt, damals, als er noch ein winziger, niedlicher kleiner Tag war, dass er, sollte er jemals innehalten, der Dunkelheit zum Opfer fallen, dass sein Licht erlöschen würde in der ewigen Finsternis. Doch jetzt, wo er älter geworden war und anfing, sich eigene Gedanken zu machen, seine Gedanken neu zu ordnen, begann er sich zu fragen, ob jener Schleier, den er stets wahrnehmen konnte ganz weit entfernt am Horizont, ob der nicht auch Teil der Dunkelheit sei, die sich hinter ihm befinden sollte. Er befragte die Vögel, die manchmal mit ihm um die Wette flogen, ob diese jemals die Dunkelheit gesehen hätten, doch die Vögel konnten seine Fragen nicht beantworten. "Es ist hell, dann ist nichts, dann ist es hell", war ihre Antwort. "Und außerdem singen wir dir Lieder von unserer Freude, damit du wach bleibst und uns scheinst". So lief er und lief, bis er eines Tages beschloß, keine Angst mehr zu haben. Er blieb stehen und drehte sich um.
Der kleinen Nacht war es nicht anders ergangen in ihrem jungen Leben, sie war gelaufen und gelaufen auf der Flucht vor dem Licht. "Es wird dir übel ergehen", hatten ihre Eltern gesagt,"wenn dich die Helligkeit erwischt. Du wirst von einem Moment auf den anderen verschwinden, so haben es die Weisen prophezeit". Sie hatte die Fledermäuse befragt, aber die hatten nur geantwortet: "Es ist dunkel, dann ist nichts und dann ist es dunkel, aber wir pfeifen dir unsere Lieder, damit du den Weg findest". Auch die kleine Nacht meinte, weit, weit entfernt etwas sehen zu können, das sich von ihr unterschied, aber so schnell sie auch lief, sie kam dem Geheimnis nicht näher. So dachte sie eines Nachts: "Wenn ich stehenbleibe, mich umdrehe und in die andere Richtung laufe, müsste ich ihm doch näher kommen. Ich bin groß inzwischen und kenne keine Angst".
Also blieb sie stehen und drehte sich um.
In weiter Entfernung erblickten der kleine Tag und die kleine Nacht ein etwas, ein Dunkel, ein Licht, und sie begannen zu laufen und sie liefen und liefen, aber sie kamen sich nicht näher. Und so laufen sie heute noch, Sehnsucht im Herzen und sie kennen keine Angst mehr.

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