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Donnerstag, Dezember 09, 2010
Siegwart Kalusche
Dass man älter wird wird einem deutlich bewusst, wenn das Hauptinteresse an der Tageszeitung in den Todesanzeigen besteht. Erst will man nur mal schauen, ob es schon Jahrgangsgefährten dahingerafft hat, dann beginnt die Suche nach bekannten Namen, schließlich stellt sich eine klammheimliche Freude ein, noch einmal davongekommen zu sein, natürlich überschattet von einer gehörigen Melancholie. "Mitten im Leben sind wir vom Tode umgeben", wen ließe dieser klassische Gedanke kalt.
Gestern las ich vom tragischen, plötzlichen Dahinscheiden meines alten Freundes Siegwart, den wir damals in der Clique immer scherzhaft Polacken-Siggi riefen (obgleich er mit Polen so viel zu tun hatte wie wir mit Deutschland), meist aber einfach nur Siggi, mit Doppel-g, ein g war für Mädchen, Sieglinde, Sieghild, Siegrid und so. Unerwartet aus dem Dasein gerafft, leuchte er nun am Himmel als hellster aller Sterne, war zu lesen, die Anzeige geschaltet von beinahe jeden progressiven Organisation in Europa. Ja, das ist typisch für ihn.
Wenn wir uns damals einfach nur die Birne zuballern wollten mit Dope und LSD, arbeitete er daran, sein Gehirn zu dekonditionieren, sich von den Zwängen und Beschränkungen einer repressiven Gesellschaft zu befreien. Wir lasen die Freak Brothers, er das Ägyptische Totenbuch und Wilhelm Reich, wenn wir vögelten, bekämpfte er das bürgerliche Besitzdenken, hektographierte Anleitungen zum Bau von Mollies und ernährte sich ausschließlich von braunem Reis mit Sojasauce. In einem revolutionären Akt befreite er sich, als Avantgarde, von der Ausbeutung durch Arbeit und ließ sich hinfort von dem Staat finanzieren, für dessen Abschaffung er unermüdlich wirkte, sein Leben lang. Sein Kampf für die Wiedereinführung der Windmühle bleibt sagenhaft, keine Minderheit, die sich vor seiner Anteilnahme in Sicherheit hätte bringen können, die Agonien der Mutter Gaia waren seine. Er kämpfte gegen Raubimporte von Wellen aus der Karibik, für vegane Wale, gegen den Abbau des Mondlichts für sinistre Zwecke, war Integrationshelfer fleischfreier Werwölfe und Stromschnellenflüsterer, aber immer war er laut und geradlinig. Von keiner Partei vereinnahmt nahm er Partei für alle, die gedemütigt und benachteiligt im Schatten vegetieren und deren Stimme er immer war. Seine letzte Konsequenz, sein letzter Weg, dem zu folgen wir den Mut aufbringen sollten: Rettet den Tiger, umarmt ihn.
Er ruhe in Frieden. Bin mal gespannt, wer morgen in der Zeitung steht.
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