Donnerstag, März 13, 2008

Ein Leben



Endlich zehn Uhr, Zeit, den Schweiß vom Gesicht zu wischen, den zweiten Kaffee zu nehmen und ein Brot zu essen. Jeden Morgen bin ich gespannt, mit welcher Belagsvariante ich mich heute überrasche. Gestern waren es Erdbeeren mit Leberwurst, heute vielleicht saure Gurke auf Marmelade. An manchen Tagen bin ich mit meiner Auswahl überhaupt nicht einverstanden, dann schimpfe ich mit mir, führe innere Streitgespräche und sieze mich bis zum Abendessen.
Üblicherweise jedoch komme ich gut mit mir zurecht, stehe fröhlich auf und begegne meinem Spiegelbild freundlich und zuvorkommend: "Du, Paul, hast es doch ganz gut getroffen", sage ich zu mir, "die Arbeit an der Gedankensortiermaschine geht dir leicht von der Hand, das Tempo ist nicht zu hoch, die Kollegen sind nett und es gibt ausreichend Pausen. Wenn du dich bewährst, kommst du in ein paar Jahren in die Ideenabfüllung. Da schiebt sich ein froher Lenz".
An anderen Tagen jedoch, wenn ich keine Zeit hatte, mich zu suchen, finde ich ein anderes "Sie", das flucht und schimpft mit mir: "Sie sind eine leere Tüte, zu faul, um Brot zu verschimmeln. Mit ihnen zu leben ist zum Haareausfallen". Dann verrichte ich schweigend meine Arbeit und setze mich nach Feierabend auf meine Lieblingsbank im Park, egal, welches Wetter vorherrscht. Hier kommen immer viele Menschen vorbei, eilige, solche mit viel Zeit, Einsame und verliebte. Aber ihre Gesichter und Geschichten interessieren mich nicht, ich beobachte und katalogisiere ihre Schnürsenkel. Meine Statistiken trage ich in ein kleines Notizbuch ein.
20.10.2006, 17:30 bis 18:00. Fünf Grad, bewölkt. Dreizehn Paar weißer, ein Paar rotgrüngelber und siebenundzwanzig Paar schwarzer Schnürsenkel, zu vierundachtzig Prozent ordentlich gebunden, 15 Prozent schlampig, ein Prozent offen. Keine Sandalen.
Ich hasse den Sommer, ich mag keine Sandalen. In den fünfzehn voll geschriebenen Kladden, die bei mir im Wohnzimmerschrank stehen, klaffen oft grosse Lücken in den Sommermonaten. Ich liebe nun mal Schnürsenkel. Manche sind witzig, sie erzählen Geschichten von ungelenken Händen in früher Morgenstunde, der Unfähigkeit, gleichzeitig zu schnüren und Kaffee zu trinken. Andere sind militärisch akkurat ausgerichtet, wieder andere scheinen eine gewisse Protesthaltung ihrer Träger wiederzuspiegeln, die Überkreuzungen sind schief, zu kurz oder zu lang gesenkelt, Knoten und Schleifen zu lose.
An den Tagen, an denen die Sandalen überhand nehmen, widme ich mich meinem anderen Hobby, der Züchtung von Superameisen. Direkt unter meiner Bank hat sich ein Stamm roter Waldameisen angesiedelt, die ich mit einer Mixtur aus Kastanienmarmelade, Rohrzucker und Anabolika füttere, seit nunmehr fünf Jahren. Von Zeit zu Zeit nehme ich eine Ameise mit nach Hause, vermesse und wiege sie. Im Lauf der Jahre sind sie um durchschnittlich fünf Prozent gewachsen und haben etwa zehn Prozent an Gewicht zugenommen. Ich muss meinem kleinen Volk inzwischen nicht mehr bei den Kämpfen mit anderen Stämmen helfen wie noch anfangs, als ich die Eingänge der "anderen" mit Brennpaste verstopft und diese angezündet habe. Es war jedes mal ein nahezu klassisches Drama, die tapferen Ameisen versuchten, das Feuer zu entfernen und vergingen in der Glut.
Jetzt aber haben meine kleinen Schützlinge ihr Territorium bis zu den nächsten Bänken erweitert und ich bin sicher, dass sie bald den ganzen Park übernehmen werden. Wenn ich genau hinsehe, kann ich einzelne Individuen unterscheiden, manchmal schaffe ich es sogar, in den Boden hineinzusehen, durch die einzelnen Körner das unglaubliche Bodenleben wahrzunehmen, ein unendliches Gewimmel von Würmern, Käfern und zahllosen Insekten. Dann stelle ich meine Augen noch schärfer, bis ich die atomare Struktur der Substanzen durchdringe und in einen subatomaren Bereich aus farbigen Nebeln vordringe. Danach habe ich regelmäßig Kopfschmerzen.
Manchmal fragen Kinder ihre Mütter, was der Mann auf der Bank denn wohl mache, er schaue so komisch auf den Boden. Dann sehe ich die Kinder an, lächle und versuche, ihnen mein kleines Geheimnis ohne Worte mitzuteilen. Ich weiß, dass sie verstehen.

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