Dienstag, Juli 07, 2009

Auf dem Balkon



Die Stadt lag vor ihm im Licht einer Frühlingssonne, die in diesem Jahr viel zu früh erschienen war und mitten in den Winterschlaf geplatzt.
Die Welt, dachte er, ist so gut organisiert, dass auch die nicht funktionierenden Aspekte kalkulierbar sind, es gibt keine Abenteuer mehr und alles scheint vorbestimmt, je nachdem, in welcher Region man sozialisiert wird.
Es müsste Persönlichkeitstauschbörsen geben, damit hätte man immer die richtige Einstellung zur Hand. I-Bay würde er sie nennen, klein anfangen und dann in ein paar Jahren den großen Schnitt machen an der Börse und danach auf dem Balkon sitzen und die Welt betrachten. Er würde sich eine schöne Sammlung von Persönlichkeiten zulegen, von fröhlich bis depressiv. Keiner sollte ihn mehr zur Verantwortung ziehen können für Handlungen, an denen er nicht einmal als Zeuge beteiligt war. Jede Art von Musik würde ihm gefallen, er könnte alles essen und hätte immer eine passende Meinung zur Hand.
Die einzigen Probleme waren noch die Konstruktion einer Maschine zum Persönlichkeitstransfer und die Vermarktung. Sich an einen der großen Pharmakonzerne zu wenden, kam nicht in Frage, über deren betrügerische Machenschaften wusste er alles. Dem Staat durfte seine Erfindung natürlich nicht in die Hand fallen, die Gefahr war zu groß, dass es zu einer Vereinheitlichung von Individualität kommen könnte. Nicht auszudenken, ein Volk brav Steuern zahlender, gesetzestreuer Gutmenschen. Er würde sich Riskokapital besorgen müssen oder Gelder aus dubiosen Quellen.
Da war es wieder, dieses Problem Geld. Die einzige Möglichkeit, nennenswerte Mengen davon zu besorgen, waren Arbeitsgebiete, von denen er keine Ahnung hatte: Drogen-, Waffen-, Frauen- und Kunsthandel. Beim Nachdenken über die optimale Reihenfolge (erst Waffen besorgen, dann Drogenhändler damit bedrohen oder erst Frauen und mit dem Erlös ihrer Vermittlung auf dem Kunstmarkt einsteigen oder...?) verging der Vormittag. Zeit zum Mittagsschlaf, er träumte von einem Apparat, mit dessen Hilfe man seine Träume programmieren könnte und erwachte mit dem konfusen Gedanken, dass Träume, die man selbst bestimmen und so auch verwirklichen könnte, eigentlich keine Träume mehr wären.
Mit einer Tasse guten Tees setzte er sich wieder auf den Balkon, beobachtete die Geschäftigkeit der Welt, die zielgerichteten Bewegungen, das Ineinandergreifen der einzelnen Faktoren. Wenn sie wüssten, dachte er, wenn sie wüssten, wie anders sie alle sein könnten. Entspannt, kontemplativ, in der Lage, auch die Zeit mal gerade sein zu lassen, nachzudenken ohne immer gleich alles verändern zu wollen. Was die Welt jetzt braucht, dachte er, ist Müdigkeit, viel mehr Müdigkeit. Gleich morgen würde er anfangen, ein Gerät zu entwerfen, einen Trägheitsgenerator, den Entschleuniger. Die Welt würde ihm seine Erfindung danken, zu Ruhm und Ehre würde sie ihm gereichen und zu immensem Reichtum. Dann würde er endlich ausruhen können.

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